Silvesterangst richtig angehen
Kurz vorher ist es zu spät!
In den Wochen vor dem Jahreswechsel sind Artikel zu Silvesterangst immer besonders populär. Bemüht man die Statistiken von Online-Suchmaschinen, findet sich die Thematik bestimmt auch sehr deutlich weiter oben im Ranking.
Aber: Einige Wochen oder gar Tage vorher ist es einfach zu spät.
Es ist nicht möglich, die Silvesterangst oder Geräuschangst innerhalb einer kurzen Zeit sinnvoll und nachhaltig anzugehen.
Ein sinnvolles Vorgehen bedeutet einen geplanten Weg, der sich mindestens über einige Monate erstreckt, mit einem individuellen Trainingsplan, ggf. unterstützenden Maßnahmen wie Kräuter oder Homöopathie und vielleicht auch Medikamente.
Medikamente?
Wohl das absolute Unwort im Zusammenhang mit Tieren, die Angst vor dem Silvesterfeuerwerk haben. In den oben erwähnten Artikeln liest man nur zu oft, dass keinesfalls Medikamente eingesetzt werden sollten.
Sicherlich müssen keine Worte darüber verloren werden, dass sämtliche Präparat mit dem Wirkstoff Acepromazin nicht in Frage kommen.
Acepromazin lähmt den Hund nur. Es sieht so aus, als sei er völlig entspannt, in Wirklichkeit kann er aber nur seine Angst nicht mehr zum Ausdruck bringen. Es prasselt also alles auf ihn hinein, innerlich besteht u.U. größte Panik, aber er ist unfähig seine Angst zu zeigen. Für uns Menschen sieht es daher nach tiefer Entspannung aus.
Diese Medikation ist überholt und es ist unverständlich, dass Präparate mit diesem Wirkstoff überhaupt noch erhältlich sind und von Tierärzten verordnet werden.
Im schlimmsten Fall wird die allgemeine Situation durch ein solches „Ruhigstellen“ noch verschlimmert.
Es gibt aber mehr als Acepromazin. Präparate mit Wirkstoffen, die tatsächlich die Geräuschempfindlichkeit lindern und nicht nur ruhigstellen oder lähmen. Solche Präparate können ein Segen für betroffene Hunde sein und es ist keinesfalls richtig, eine Medikation kategorisch und pauschal abzulehnen.
Warum aber nun dieser Beitrag, der nichts mit unserer eigentlichen Thematik „BARF“ oder allgemein Ernährung zutun hat?
Weil wir selbst betroffen sind. Und weil wir im letzten Jahr einiges erreichen konnten.
Und, weil Erfahrungsberichte mehr wert sind, als das bloße Abhandeln von Standard-Tipps.
Wir hoffen, damit dem ein oder anderen Hund und Halter weiterhelfen zu können, Mut zu machen und zu zeigen, dass es sich lohnt die Sache anzugehen!
Und zwar zur richtigen Zeit, nämlich genau JETZT.
Unsere Geschichte
Bis zum Jahreswechsel 2022/2023 gehörten wir zu den Hundehaltern, die noch nie mit Silvesterangst bei Haustieren zutun hatten.
Nun aber, zum ersten Mal in über 30 Jahren Hundehaltung, hatten wir plötzlich einen Hund, der an Silvester Angst hat, in Panik verfiel und nur noch Flucht kannte.
Das erste Silvester 2021/2022 war noch völlig entspannt, allerdings war es auch noch ein „Corona-Silvester“, mit Feuerwerksverbot und daher viel weniger Krach.
Dann aber, am 28.12.2022, ging beim Morgenspaziergang mit unserer damals fast 2 jährigen Hündin in etwas Entfernung ein Böller hoch und ab diesem Zeitpunkt war es vorbei: Zug auf der Leine, nur noch vorwärts in Richtung zuhause, sie war nicht mehr ansprechbar, sie konnte kein Leckerchen annehmen, bot sich ein Busch an, hat sie sich darin verkrochen.
Es ist unglaublich, welche Kräfte ein Hund entwickeln kann, der Panik fühlt!
Zuhause angekommen, war der Lieblingsaufenthaltsort der Keller oder das Gäste-Bad als einziger Raum ohne Fenster. Und zwar nach jedem Spaziergang.
Selbst fressen wollte das Labrador-Tier teilweise nicht mehr. Mit panisch aufgerissenen Augen saß sie in einer Ecke und man sah, dass sie die Welt nicht mehr versteht.
Dieses Foto ist am 30.12.2022 nach einem Spaziergang entstanden.
Sichtlich ängstlich und aufgeregt sitzt Iva im Gästebad.
In ganz heftigen Situationen hat sie sich dann sogar unter das Hänge-WC gequetscht.
Und übrigens: Iva ist offiziell bestätigt schusssicher!
Ab dem 28.12.2022 war nicht mehr an normale Spaziergänge zu denken, ab sofort war jeder Spaziergang so, bei dem ein Knaller zu hören war. Und auch „knallfreie“ Spaziergänge waren alles andere als entspannt, da sie ständig die negative Erwartungshaltung hatte es könnte knallen.
Den Weg, den wir gelaufen waren als der erste Böller hochging, konnten wir ab sofort nicht mehr gehen. Sie hat sich mit allem was sie hatte dagegen gesträubt diese Richtung einzuschlagen.
Da es nicht bei diesem einen Böller blieb, sondern auf anderen Wegen auch immer wieder die Situation entstand, hatten wir dann bald keine andere Wahl mehr, als mit dem Auto immer wieder neue Wege zu suchen damit sie sich lösen konnte.
Irgendwann kam uns die wirklich grandiose Idee auf Wegen entlang der Autobahn gassi zu gehen. Das war perfekt, das Brummen der Autos übertönte die Knaller in der Ferne. Und zumindest konnte sie sich lösen, auch wenn die Spaziergänge trotzdem nicht komplett entspannt waren. Sie hatte durchgehend die Erwartung, dass es wieder knallen könnte, sie stand also ohne Unterbrechung unter Strom.
Irgendwie haben wir dann den 31.12. hinter uns gebracht, aber da ist für die Feuerwerksfreunde die Sache ja noch nicht vorbei…
Am Ende dauerte es bis Mitte Januar, bis wir wieder normale Spaziergänge unternehmen konnten und noch länger, bis sie wieder alle Wege mit uns laufen konnte.
Schon Tage gingen keine Böller mehr hoch, aber sie war weiterhin voller Skepsis und immer in der unangenehmen Erwartungshaltung, dass es knallen könnte.
Normale Alltagsgeräusche, wie etwa das Zuschlagen einer Autotür, haben sie zusammenzucken lassen und sofort war wieder die Panik zu sehen.
Es dauerte Wochen, bis diese normalen Geräusche wieder kein Problem mehr waren.
Für uns war klar, das ist kein Zustand, der bleiben kann.
Also machten wir uns auf die Suche nach einer Trainingsmöglichkeit und hatten das Glück, ganz in unserer Nähe eine Tierärztin zu finden, die sich ausschließlich mit Verhaltenskunde beschäftigt und auf Geräuschangst spezialisiert ist.
Nach etwas Wartezeit auf den Ersttermin starteten wir im Frühjahr 2023 mit dem Training.
Das Training
Es macht nun keinen Sinn im Detail darauf einzugehen, welche Trainingsschritte in der Verhaltenstherapie unternommen wurden, denn das Schema sollte auf jeden Hund individuell abgestimmt werden.
Aber so viel ist zu sagen: Es ist NICHT einfach damit getan, irgendwelche Audio-Dateien mit Silvestergeräuschen abzuspielen und diese positiv zu verknüpfen – oder zu versuchen, das zu tun.
Es fängt bei der Orientierung am Menschen an und irgendwann kann dann darüber nachgedacht werden, die Desensibilisierung zu starten. Dazu ist aber eine gute und geplante Vorbereitung nötig. Vorher haben wir über Wochen hinweg eine Futtertube positiv konditioniert, einen portablen Rückzugsort positiv belegt, ein Entspannungslied konditioniert und noch einiges mehr, bevor wir ab Ende September 2023 erstmalig mit den „negativen“ Geräuschen gearbeitet haben. Und auch das sehr kleinschrittig, nach genauem Plan, mit genauer Steuerung der Geräusche (Art und Lautstärke) unter genauer Beobachtung jeder noch so kleiner Reaktion und stetiger Anpassung des Vorgehens auf die Reaktionen.
Exkurs: Konfliktstratgien
In dieser Verhaltenstherapie ist auch ein sehr wichtiger Bestandteil, dass der Hundehalter lernt seinen Hund zu lesen, sein Verhalten richtig einzuschätzen und zu interpretieren.
Ein optimaler Trainingseffekt wird erzielt unter optimalen Trainingsbedingungen und um optimale Trainingsbedingungen zu schaffen, muss der Hundehalter seinen Hund gut einschätzen können und ihn lesen lernen.
Dem Hund stehen grundsätzlich 4 Möglichkeiten zur Verfügung wie er auf eine für ihn bedrohende Situation reagieren kann.
Diese Konfliktstrategien werden als die „4 F der Verhaltensreaktion“ bezeichnet:
- Fight (Angriff)
- Flight (Flucht)
- Freeze (Schockstarre, Bewegungsunfähigkeit)
- Flirt (Beschwichtigungsverhalten, Spielaufforderungen)
Welche der Konfliktbewältigungsstrategien auftritt, ist jedoch keine willentliche Entscheidung des Hundes. Deshalb kann sich der Hund dabei auch in echte Gefahren bringen, besonders bei „Fight“ und „Flight“.
Wahrscheinlich wird der Modus „Flirt“ im Zusammenhang mit Angst am häufigsten nicht als Reaktion erkannt bzw. gewertet, dabei tritt diese Verhaltensreaktion gar nicht so selten auf.
Daher ist es ein wichtiger Grundstein, diese Konfliktstrategien zu kennen und lesen zu können. Neben diesen recht offensichtlichen Verhaltensreaktionen gibt es viele deutlich weniger offensichtliche Reaktionen, die besonders während des Verhaltenstrainings von Bedeutung sind um das Training passend zu gestalten.
Um diese Reaktionen zu erkennen und nicht zu übersehen, ist der Blick eines geschulten Verhaltenstrainers unabdinglich!
Der Jahreswechsel 2023/2024
Schneller als wir schauen konnten war dann auch schon wieder Weihnachten vorbei.
Nun ging 2023 der Feuerwerksverkauf ja schon am 27.12. los, weil der 31. auf einen Sonntag fiel – potentiell also ein Tag mehr Spießrutenlauf.
Wir haben aber ziemlich schnell gemerkt, dass diesmal alles besser ist. Im Hellen gab es in den Tagen keinerlei Probleme, ging ein Böller hoch, war ihr das zwar nicht angenehm, aber sie hat bei uns „nachgefragt“, durfte dann an der Tube lecken und wir konnten ziemlich normal weiterlaufen.
Wurde stärker geknallt, zeigte das konditionierte Entspannungslied gute Dienste.
Im Dunkeln war es schon etwas kritischer, da wollte sie dann lieber zügig nachhause. Eindeutige Verbesserung zum Jahr vorher war aber: Sie war stets ansprechbar und die Leine war trotzdem locker! Wir mussten nur einen einzigen Spaziergang abbrechen, weil dummerweise direkt nach dem Aussteigen aus dem Auto in der Nähe ein sehr lauter Knaller in einen Gulli geworfen wurde.
Zuhause hatten wir überhaupt keine Probleme mehr. Sie wollte nicht ein einziges Mal in den Keller und hat sich nur einmal kurz überlegt ins Gäste-Bad zu gehen, es blieb aber bei der Überlegung.
So ein großer Fortschritt!
Dieses Bild zeigt Iva am 29.12.2023 am Abend, während draußen ordentlich Knaller gezündet wurden. Entspannter geht es wohl nicht ;-)
Auch für uns Menschen war es eine große Entspannung, dass Iva sich nun zumindest im Haus sicher fühlen konnte.
Am 1. Januar konnten wir einen ganz normalen Morgenspaziergang unternehmen, ohne jegliche Angst oder Skepsis.
Das Training hat also sehr deutlich gefruchtet und wir sind sehr froh, so viel Stress abgewendet zu haben.
Das Training ist aber trotzdem noch nicht zu Ende. Wir arbeiten weiter dran, das Training läuft ununterbrochen weiter.
Nochmal zum Thema Medikamente...
Trotz des Trainings stand bei uns im Raum, ob wir nicht mit Medikamenten arbeiten sollten. Die Überlegung wurde aber dadurch zerschlagen, dass die für unsere Hündin in Frage kommenden Medikamente nicht lieferbar waren.
Medikamente können nämlich einen Teil der Therapie darstellen, z.B., damit sich Ängste nicht generalisieren. Es geht dabei also nicht nur rein darum, einfach die schlimmen Tage zu überstehen.
Medikamente können mehr, wenn sie entsprechend fachkundig eingesetzt werden.
Folgende Medikamente stehen grundsätzlich zur Verfügung, völlig wertungsfrei:
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Sileo (Dexmedetomidin - https://www.vetpharm.uzh.ch/tak/06000000/00066980.01)
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Pexion (Imepitoin - https://www.vetpharm.uzh.ch/tak/06000000/00062668.02)
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Alprazolam (Benzodiazepin - https://www.vetpharm.uzh.ch/Wirkstoffe/000000002898/1977_04.html)
- Trazodon (SSRI - https://www.vetpharm.uzh.ch/Wirkstoffe/000000001979/4935_04.html)
Diese Medikamente sind in ihrer Wirkung nicht vergleichbar mit Acepromazin!
Während Sileo und Pexion eine Zulassung zur Anwendung bei Geräuschangst von Tieren besitzen, handelt es sich bei Alprazolam und Trazodon um Humanarzneimittel. Sie dürfen also nicht ohne Weiteres an Tiere verordnet werden.
Trazodon ist übrigens in Deutschland eher weniger in diesem Zusammenhang bekannt, wird in der Schweiz aber häufig bei Hunden mit Angstzuständen angewendet.
Hierzu können wir nun auch nur theoretische Tipps geben, aber ohne es ausprobiert zu haben, halten wir dieses Vorgehen für den richtigen Weg:
Wenn die Entscheidung fällt, dass ein Medikament zum Einsatz kommen soll, muss das gut geplant geschehen.
Im besten Fall wird die Wirkung des ausgewählten Präparats schon vor Silvester getestet, außerhalb einer angstmachenden Situation - so wird es auch von Verhaltensspezialisten empfohlen.
Ziel dieser Präparate ist nämlich nicht, dass der Hund völlig ausgeknockt in der Ecke liegt. Im besten Fall kann der Hund unter der Medikation ganz normal seinen Alltag bestreiten, hat dabei aber einfach keine Angst vor den Feuerwerksgeräuschen. Die richtige Dosierung kann nur durch Austesten gefunden werden. Dazu sollte aber ein fachkundiger Tierarzt beraten.
Allein dieser Punkt zeigt, dass es keinen Sinn macht, sich erst in den Wochen vor Silvester Gedanken um die Angst des eigenen Hundes zu machen.
Kein Hundehalter muss jedenfalls ein schlechtes Gewissen haben oder es sich machen lassen, wenn er sich über Medikation gegen Silvesterangst Gedanken macht. Menschen, die das so kategorisch ablehnen, haben sicherlich noch keinen in Panik verfallenden Hund erlebt.
Und es ist einfach falsch, jegliche Medikation in einen Topf mit Acepromazin zu werfen und allgemein zu verteufeln. Es ist fürchterlich mitanzusehen, wie der geliebte Vierbeiner unter Angst steht und in Panik verfällt, denn man ist in dieser Situation erstmal machtlos und kann nicht direkt helfen.
So eine Situation ist für das Tier extrem belastend und deshalb hat ein Tierhalter die Verpflichtung, seinem Tier zu helfen. Wenn das ohne Medikamente klappt, ist das natürlich der Königsweg. Aber das klappt eben nicht immer.
Wundermittel gibt es nicht!
Wer in diesem Text ein Wundermittel gegen die Silvesterangst erwartet hat, ist nun sicherlich enttäuscht. Dazu sei aber klar zu sagen: Es gibt weder ein Wundermittel, noch ein Standardrezept.
Allerdings gilt immer: Nichts tun ist die schlechteste Lösung.
Eine echte Geräuschangst wird sich nur mit gezieltem Training lindern lassen.
Nicht allein mit Kräutern (Phytotherapie), nicht allein mit Homöopathie, nicht allein mit speziellen Nahrungsergänzungen. All diese Produkte haben ihre Daseinsberechtigung und können unterstützend helfen – sie werden aber bei einer echten, ausgeprägten Geräuschangst nicht die alleinige Lösung des Problems sein.
Und klar muss auch sein: Es ist Aufwand die Geräuschangst anzugehen.
Es ist nicht in ein paar Wochen erledigt, sondern erfordert ein stetiges Arbeiten an dem Problem. Und auch hier gibt es genug Skeptiker, die behaupten, eine solche Angst sei nicht mit Training zu reduzieren oder therapierbar.
Dann stellt sich nur unweigerlich die Frage, was denn die Alternative ist?
Medikamente werden als No-Go bezeichnet, Training sei wirkungslos – also muss es einfach hingenommen und akzeptiert werden?
Nein, das denken wir nicht. Zumal es auch durchaus Stimmen gibt – berechtigt – die das einfach Hinnehmen einer solchen Angstsituation als tierschutzwidrig einstufen.
Gesundheitszustand überprüfen!
Nicht zu vergessen ist bei all dem allerdings auch die Gesundheit des Hundes. Ängste können auch immer durch gesundheitliche Probleme entstehen bzw. verstärkt werden, wie etwa durch Schmerzen oder durch hormonelle Probleme (Schilddrüse!).
Aber auch der Darm rückt bei Verhaltensforschern immer mehr in den Fokus. Die „Gehirn-Darm-Verbindung“ oder „Darm-Hirn-Achse“ ist schon länger Forschungsgegenstand bezüglich psychischer Erkrankungen beim Menschen. Man geht inzwischen davon aus, dass der Darm die Psyche stärker beeinflusst als umgekehrt. Die Forschung dazu läuft stetig und es gibt noch keine abschließenden Ergebnisse, eindeutig klar scheint aber, dass der Zusammenhang von Darmfunktion und Emotionen sehr eng ist.